Frauenrolle

Rosa Tännler verkörperte eine selbstbewusste und engagierte Frau. Schon in jungen Jahren übernahm sie viel Verantwortung, führt als Teenager das elterliche Gasthaus auf der Steinalp und konnte sich mit den Reisenden unterhalten – auch auf Französisch.

Die Rolle der Frauen

Die meisten Frauen im Gadmental halfen zu jener Zeit auf dem landwirtschaftlichen Betrieb und auf der Alp mit, die meisten waren Hausfrauen und Mütter, kümmerten sich um das Wohl der Familie und der Tiere. Damals herrsche eine ganz anderes Rollenverständnis: Das Abstimmen und Wählen war den Männern vorbehalten – sie diskutierten unter sich, wogen ab und entschieden für alle. Nichts desto trotz machten sich die Frauen im ganzen Land für ihre Anliegen stark, kämpfen für rechtliche Gleichstellung, bessere Bildung und gerechtere Arbeitsbedingungen. Manchmal mit und manchmal ohne Erfolg. Ein paar Beispiele:

1873 – Westschweizer Gewerkschafterinnen verlangten gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dieses Thema ist somit seit über 150 Jahren präsent.

1874 – Meilenstein für Mädchen: Der obligatorische und kostenlose Primarschulunterricht wurde in der Verfassung für alle verankert. Auch wenn der Schwerpunkt weiterhin auf der Erziehung der Knaben lag.

1882 – Das neue Handlungsgesetz machte es ledigen, geschiedenen und verwitweten Frauen möglich, ein eigenes Gewerbe zu betreiben. Verheiratete Frauen blieben davon ausgeschlossen.

1887 – Politische Gerechtigkeit! Die Bündnerin Meta von Salis-Marschlins forderte «Stimmrecht und Wahlfähigkeit» für Frauen. Es dauerte dann doch noch bis 1971 …

1897 – Die Zürcher Union für Frauenbestrebungen wollte den Passus «Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gemeinschaft» aus dem neuen schweizerischen Familienrecht kippen. Vergeblich.

Ohne Opfer kann kein geistiges und auch körperliches Rüstzeug in Bereitschaft gestellt werden. Aber das Rüstzeug bleibt. Und zur gegebenen Zeit wird der Grabenrand erklommen sein. Das steht für mich fest.
— Rosa Kruck-Tännler in einem Brief an Sohn Gustav

Drei Pionierinnen

Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Gründungen erster landesweiter Frauenverbände, Anstoss dazu gab die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874. Bereits etwas früher entstanden in diversen Berufen neue Möglichkeiten für Frauen, denn vereinzelt durften sie nun ausgewählte Universitäten besuchen. Damit übernahmen Pionierinnen vielerorts wichtige Vorbildrollen und verschoben die vorherrschenden gesellschaftlichen Grenzen.

Marie Heim-Vögtlin (1845–1916)

Marie Heim-Vögtlin
(1845–1916)

So wie die Aargauer Pfarrerstochter Marie Heim-Vögtlin (1845-1916). Sie wusste schon als Mädchen, dass sie Ärztin werden möchte. Das war ein ungewöhnlicher Wunsch, denn Frauen besuchten die Universität damals grundsätzlich nicht. Dank der Bewilligung ihres Vaters begann Marie 1868 als erste Studentin ein Medizinstudium an der Universität Zürich. Ihre Zulassung löst Entrüstung im ganzen Land aus. Trotz Vorurteilen und Widerständen setzte sie sich durch – und wurde 1874 die erste Ärztin der Schweiz.

Emilie Kempin-Spyri (1853–1901)

Emilie Kempin-Spyri
(1853–1901)

Oder wie die Zürcherin Emilie Kempin-Spyri (1853-1901). Sie heiratete nach ihrem Haushaltslehrjahr einen Pfarrer, wurde Mutter von drei Kindern – und studierte anschliessend Rechtswissenschaften. 1887 erlangte sie als erste Europäerin den Titel Doktorin der Rechte. Doch das nützte in der Schweizer Arbeitswelt nicht viel: Denn die Zulassung als Anwältin wurde ihr hierzulande wegen ihres Geschlechts vorenthalten. Schliesslich gründete sie in den USA eine Rechtsschule für Frauen.

Johanna Spyri (1827–1901)

Johanna Spyri
(1827–1901)

Oder die Zürcher Schriftstellerin Johanna Spyri (1827-1901). Sie heiratet 1852 einen Juristen, wurde Mutter. Doch mit der Rolle als Hausfrau war sie nie richtig glücklich. Freunde ermunterten sie schliesslich, Geschichten zu schreiben. Und tatsächlich: Mit 44 Jahren veröffentlichte Johanna Spyri ihr erstes Buch. 1879 – in jenem Jahr also, als klein Rosa auf der Steinalp oberhalb von Gadmen das Licht der Welt erblickte – erscheint ihr Erfolgswerk «Heidi», das sich weltweit über 50 Millionen Mal verkaufte und in 55 Sprachen übersetzt wurde.