Gadmen um 1900

Im 18. und 19. Jahrhundert kämpften die Menschen im Gadmental ums Überleben. Zu wenig Land und Nahrung sorgten für Not und Hunger. Viele Familien wurden zu Wirtschaftsflüchtlingen und wandertn nach Amerika aus.

Harter Alltag im Bergdorf

Sie waren Landwirte und Älplerinnen, umsorgten Vieh und Land, flössten in der Gadmenaare, leisteten Heimarbeit auf ihren Webstühlen, jagten und heuten, suchten nach Kristallen und schnitzen Nützliches aus Holz. Im 19. Jahrhundert war das Leben im Gadmental geprägt von Armut. 1880 lebten hier 759 Menschen, verteilt auf fünf Weiler. Die wirtschaftliche Lage liess keine grossen Sprünge zu, Hunger und Not gehörten für viele zum Alltag. Das Kulturland im engen Tal war begrenzt. Und bei einer Erbteilung zerfielen die Felder und Weiden in immer kleinere Parzellen – diese vermochten die Familien kaum mehr zu ernähren.

Es gab verschiedene Auswanderungswellen in der Region. Eine erste, grosse startete Anfang des 18. Jahrhunderts, da spielten vorwiegend religiöse und politische Gründe eine Rolle. Die Emigration zwischen 1870 und 1930 hingegen betraf vorwiegend Wirtschaftsflüchtlinge, die sich anderswo ein besseres Leben erhofften. In Gadmen gab es zu jener Zeit innerhalb von nur drei Jahren über 150 Konkurse. Verzweifelte Familien verschuldeten sich bei Geschäftsmännern im Dorf, gerieten in Notlage – und hatten keine Chance mehr, ihre Ausstände zurückzubezahlen. Also blieb nur die Flucht in eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land.

Eine starke Macht im Dorf stellte damals die Kirche dar. Sie war Hüterin von Anstand und Sitte, urteilte über Moral und Lebensweise. Was schickte sich zu jener Zeit? Was nicht? Die Institution lieferte viel Antworten, hatte klare Vorstellungen dazu. Zumindest vordergründig. Nichts desto trotz wurde beispielsweise der traditionelle Kiltgang geduldet, das delikate Werbeverhalten junger Männer. Diese schlichen nachts einzeln oder in Gruppen durch die Strassen und besuchten heiratsfähige Mädchen zuhause in deren Kammern oder in der Stube. Führten die Treffen zu einer unverhofften Schwangerschaft, musste das Paar heiraten.

Die Kirche wurde 1722 erbaut und ersetzte eine kleine Kapelle. Früher kam der Wanderpfarrer jeweils sonntags oder donnerstags nach Gadmen hinauf – zu Fuss oder mit einem gemieteten Pferd. Schneite es im Winter jedoch zu heftig, musste auch mal ein Gebet des Schulmeisters reichen … Die Kirchenbänke waren immer gut gefüllt, denn im Anschluss an die Predigt verlas der Gemeinderat auf dem Platz vor dem Gotteshaus jeweils die neusten Nachrichten und Entscheide.

Das Gadmental entsprach in vieler Weise dem idealisiertem Bild der Schweiz. Die Lage im Herzen des Landes, die imposanten Berge, die bescheidenen Lebensumstände. All das passte perfekt in das zu jener Zeit weit verbreitete Heimatbild – und kurbelte auch den Tourismus an. Wer vor dem Lärm der neuen Brünigbahn (1888 eröffnet) flüchten wollte, suchte Erholung im Grimsel- oder Sustengebiet.

Hotels entstanden weitherum, das nahe Meiringen entwickelte sich zu einem touristischen Zentrum, und selbst die Bergbauerndörfer am Hasliberg mauserten sich um 1900 zu einer Destinationen für Gäste. Vielerorts fanden die Einheimischen im Fremdenverkehr ein Auskommen – ebenso im Gadmental. So wird im Tourismus-Büchlein «Meyringen und das Oberhasli» aus dem Jahr 1894 empfohlen, die leichtere Tour über den Susten ins Auge zu fassen: «Gute Strasse bis Gadmen. Fahrt bis Steinalpgasthaus möglich. Guter Saumweg zur Passhöhe und durchs Meyenthal nach Wasen im Reussthal, Station der Gotthardbahn.»

Ein- oder Zweispänner, Pferde, Führer und Träger konnten zur «Beförderung der Reisenden und ihres Gepäcks» gemietet werden. Von Meiringen über Gadmen bis nach Wasen kostete das mit Sack und Pack allerdings stolze 80 Franken; Zwischenstopps für Essen und Schlafen – zum Beispiel bei Familie Tännler im «Bären» Gadmen oder auf der Steinalp – nicht eingerechnet. Mit den Reisenden kamen neue Kulturen und fremde Sprachen ins Tal, die Einheimischen begegneten dem Neuen mit Offenheit und Gastfreundschaft. Dennoch wurde das Dorf nicht verkitscht, blieb über all die Jahrzehnte authentisch und bescheiden.